„Viele Publizisten dieser Art glauben vermutlich, was sie
schreiben, Sogar mir ging es so, daß ich glaubte, was sie
schrieben, bis ich die Tatsachen nachzuprüfen begann.
Der Fehler ist eben der, daß sich bei diesen Autoren
immer einer auf den anderen verläßt und unbesehen
nachplappert, was der andere behauptet. In einer Art
Schneeballsystem ergeben sich daraus immer üppigere,
noch fantastischere und noch haltlosere Hypothesen.“
- Lawrence D. Kusche, amerikanischer Publizist
„Aber das bedeutet eben doch, daß nur das wortwörtlich
von Platon übernommen wird, was in eine Theorie
hineinpaßt, Widersprüchliches als Mißverständnis oder als
Übermittlungsfehler erklärt werden muß.“
- Ernst von Khuon
Es könnte der Stoff für ein Hollywood-Drama sein. Ein mächtiges Imperium voller Reichtümer beherrscht tyrannisch große Teile der Welt. In ungezügeltem Eroberungsdrang schickt es sich an, auch den Rest zu unterwerfen, und sendet ein Heer aus, gewaltiger, als man je eines gesehen hat. Unaufhaltsam schreitet es voran, Land um Land wird besetzt, denn der Überlegenheit des Gegners können selbst die ältesten und größten Nationen nicht widerstehen. Da gelingt es einer kleinen Stadt freier, unbeugsamer Bürger, sich wie das Gallierdorf des Asterix der mächtigsten Militärmaschinerie aller Zeiten zu widersetzen. Eine Handvoll aufrechter und heldenhafter Kämpfer, aus einer Siedlung von kaum 20 000 Einwohnern stammend, besiegt das Imperium und befreit edelmütig die besetzten Länder. Und schließlich versinkt das Herz des geschlagenen Reichs, von den Göttern gestraft, in einer Naturkatastrophe, nach der die Welt nie mehr sein wird, wie sie vorher war.
Diese dramatische Geschichte ist jedoch kein
Kintopp-Drehbuch. Ihr Autor ist
Platon, ein Mann aus dem antiken
Athen. Dessen Gesamtschriftwerk umfasst mehr Seiten als die Bibel,
doch der Allgemeinheit bekannt ist er hauptsächlich durch die
Fragmente jenes Epos, das von Kampf und Untergang der sagenhaften
Insel Atlantis berichtet.
Seit ihrer postumen Veröffentlichung vor beinahe
zweieinhalb Jahrtausenden beschäftigt die Atlantika die Träume
ihrer Leser. Ist sie ein Report lange zurückliegender Ereignisse
oder romanhafte Fiktion eines greisen Fabulierkünstlers? Gab es die
sagenhafte Insel Atlantis? Zwar fällte schon Platons prominentester
Schüler,
Aristoteles, das vernichtende Urteil, dass derjenige, der
Atlantis erfunden habe, es auch versinken ließ, und immer wieder
wurde es als größter Aprilscherz aller Zeiten angesehen. Trotzdem
behandelten viele antike Autoren - auch wenn sie mehr oder minder
verdrehte Einzelheiten wiedergaben - Atlantis als historische
Tatsache. Die nach Platons Tod verfasste klassische Literatur
wimmelte von Inseln und Kontinenten, die Atlantis ähnlich sind. Im
späten Mittelalter tauchte es auf manchen Seekarten als noch nicht
lokalisierte Insel auf. Während des Zeitalters der Entdeckungen,
genauer der Eroberungen, wurde erfolglos nach den Schätzen des
verlorenen Atlantis gefahndet: trotz Platons Meldung, dass die Insel
völlig versunken sei, hofften einige spanische Seefahrer, auf dem
Weg in die Neue Welt Atlantis zu passieren und die Reichtümer seiner
alten Hauptstadt plündern zu können. Auch Amerika selbst wurde
versuchsweise mit Atlantis identifiziert: Man schlug sogar ernsthaft
vor, das neuentdeckte Südamerika mit dem Namen der versunkenen Insel
zu belegen.
Die Suche nach Atlantis als dem verlorenen Paradies aber
begann erst, als sich im Bewusstsein der Christenheit die
Atlantissage mit der Legende vom Garten Eden zu vermischen begann.
Diese andere, jüngere Tradition ist erst wenig mehr als hundert
Jahre alt: Sie wurde 1882 von
Ignatius Donnelly mit dem Erscheinen
seines Buches „
Atlantis: The Antediluvian World“ begründet. Sein
Atlantis hat mit dem Platons nur noch den Namen gemein. Das
Donnellysche Atlantis ist identisch mit allen Inseln der
Glückseligen, Paradiesen und Ländern der ewigen Jugend, die
weltweit in Mythen und Märchen erscheinen. Es wird zur Heimat und
Herkunftsort der Götter, zur Wiege der Zivilisation und zur Wurzel
aller Hochkulturen der Alten und Neuen Welt zugleich.
Das ist Fiktion und stützt sich weder auf Platon noch auf
eine andere glaubwürdige Quelle. Doch Donnelly beeinflusste die
moderne Vorstellung von Atlantis weitaus stärker als Platon: Viele
seitdem publizierte Bücher greifen auf Donnellys Fantasien und
unwissenschaftliche Argumente zurück, als seien sie bewiesene
Tatsachen. Seitdem gilt Atlantis im Volksglauben als versunkenes
Zentrum einer einstigen Hochkultur, deren Zivilisation Spuren auf der
ganzen Erde hinterlassen haben soll. So zweifelhaft Donnellys
Ansichten sein mögen, er traf seine Leser am richtigen Punkt: dem
Traum von einer glücklichen, verlorenen Vergangenheit. Damit
verankerte er Atlantis in den Bestsellerlisten.
Die dauerhafte Popularität dieser neuen Legende führte
leider auch dazu, dass sich vielfältige Sektierer, Spintisierer und
Spinner an den Boom hängten. Damit geriet Atlantis in die Welt des
Okkulten: Die neuen Autoren spannen ebenso fantasievolle wie
unglaubhafte Geschichten um einen Mythos, von dem sie nicht mehr als
den Namen gewusst zu haben scheinen. Platons Atlantis blieb auf der
Strecke.
Das wird sofort ersichtlich, wenn man die Aussagen mehrerer
dieser Autoren miteinander vergleicht und feststellt, dass sie
jeweils keine Ähnlichkeit miteinander noch mit dem Atlantis Platons
haben. Die Atlantisse der Moderne, wie sie von einer
HelenaBlavatsky, einem
Rudolf Steiner oder einem
Edgar Cayce erfunden
wurden, sind zueinander hoffnungslos widersprüchlich. Freilich
beansprucht jeder von ihnen die Wahrheit für sich - aber sollte man
nicht meinen, dass alle das gleiche Atlantis beschreiben müssten,
erhielten sie ihre Informationen aus glaubwürdigen Quellen?
Literaturhistorisch gesehen ist dies nur die logische
Fortsetzung des Prozesses, der die Mythen der Antike entstehen ließ.
Denn Donnelly und seine Epigonen tun im Grunde nichts anderes als
Homer in seinen Epen um den Trojanischen Krieg: Sie sammeln Legenden
aller Art und versuchen, aus ihnen ein kohärentes System zu bilden.
Daran ist nichts Schlechtes. Die Legitimation ist die gleiche, mit
der zum Beispiel auch
Gustav Schwab seine unsterblichen „
Sagen desklassischen Altertums“ schrieb, die wir alle aus unserer Jugendzeit
kennen. Sie jedoch quasi für die Bibel des antiken Griechenlands zu
halten, muss in die Irre führen. Denn Homers „Odyssee" ist
wie die „Sagen" des Gustav Schwab ein Roman des griechischen
Mythos, nicht der Mythos selbst. Man glaubte nicht an Homer oder
Platon, wie man an das Neue Testament glaubt: Solch gelehrtes
Schrifttum bewegte sich auf Ebenen, die vom Volksglauben und der
echten Verehrung der alten Götter weit entfernt war.
Das muss auch für Platon gelten. Was er über Atlantis
schrieb, war seine dramaturgische Bearbeitung, aus der durch den
Vergleich mit anderen Quellen herausgefiltert werden muss, was
authentisch sein kann und was sich als seine eigene Zutat erkennen
lässt. Bis heute wurde kein archäologisches oder geologisches
Zeugnis gefunden, das sich zweifelsfrei einer Kultur zuordnen ließe,
welcher der Name Atlantis zugesprochen werden kann. Doch wenn Platons
Atlantika nur sorgfältig genug auf ihre Einzelheiten abgeklopft
wird, lässt sich vielleicht dennoch erkennen, ob Aristoteles mit
seinem vernichtenden Urteil Recht hatte oder ob sie sich doch auf
ältere Quellen stützt. Und auch, welche Motivation sich hinter
ihrer literarischen Umsetzung verbirgt.
Das Video zum Buch: